Gastbeitrag von Günther Wessel: Wie ich die „Gunst des Verschlafens“ kennen lernte…
Von vermeidlicher Alpen-Idylle und: Wie ich die „Gunst des Verschlafens“ kennen lernte…
Schneebedeckte Gipfel, blühende offene Weiden, aus groben Balken gezimmerte Almhütten, dichte Wälder und Ortskerne mit kleinen Kirchen und Häusern, die mit blumengeschmückten hölzernen Balkonen verziert sind. Gute Luft, Ruhe und viel Platz – um durchzuatmen, zu wandern, zu faulenzen. Und Abends ein kühles Bier, Knödel und was die Küche sonst noch so hergibt genießen. Damit wirbt das Zillertal im Herzen Tirols.
Mit diesem malerischen Bild im Kopf fahre ich im Frühjahr aus Berlin Richtung Süden. Der Rest meiner 4fürsKlima-Familie muss zu Haus bleiben. Ich fahre mit dem Auto (und mit einem schlechten Gewissen, aber für meine Radiorecherche über den Alpentourismus geht es einfach nicht anders. Ich habe alle Varianten probiert, aber mit öffentlichem Verkehr würde ich nicht dorthin kommen, wo hin ich muß.)
Den ersten Bruch mit meinem Bild der Alpen-Idylle erlebe ich, als ich die Inntal-Autobahn, die von Kufstein nach Innsbruck führt, bei Wiesing verlasse. Dort beginnt die Bundesstraße 169 und ich stehe im Stau! Fast immer staut es sich hier, im Sommer mehr noch als sonst. Die Straße führt nach Süden, ein kurzes Stück durch Wiesen und Wald, dann folgen rechter Hand eine Tankstelle, das „Restaurant“ einer bekannten Fast-Food-Kette und sofort dahinter ein großer, zweistöckiger Pavillon: „Zillertal.at“, die Zentrale der Zillertal Tourismus GmbH, die den Fremdenverkehr im Zillertal entwickelt und vermarktet. Mit deren Chef bin ich verabredet, denn ich möchte etwas über naturnahen Tourismus lernen – für einen Radiobeitrag.
„In den letzten zehn Jahren“, sagt Geschäftsführer Gernot Paesold voller Stolz, „haben wir unsere Besucherzahlen auf 7,4 Millionen Übernachtungen im Jahresschnitt gesteigert“. Das sind fast 21.000 Übernachtungen am Tag. Trotz dieser enormen Zahlen liegt die Auslastung der Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen im Sommer nur bei knapp 30, im Winter bei knapp 50 Prozent, und auch die Verweildauer der Urlauber beträgt durchschnittlich gerade mal 5,3 Tage. Es könnten also, rein von der Bettenkapazität gedacht, noch viel, viel mehr Leute kommen. Damit das passiert, investieren die Gemeinden immer mehr: In Infrastruktur, in Wanderwege, Klettersteige, Mountain-Bike-Parcours, Kulturveranstaltungen. In Abenteuerspielplätze am Berg, Greifvogelstationen, Bergbahnen, Golfplätze, Klettersteige, Hochseilgärten oder Sommerrodelbahnen. Das alles, so die Hoffnung, bringt noch mehr Besucher, mehr Jobs, mehr Geld.
Werner Bätzing lässt das hingegen gruseln. Bätzing war Professor für Kulturgeograhie, er beschäftigt sich seit 40 Jahren mit den Problemen des Alpenraum. Er spricht von einer künstlichen Freizeitwelt und einem permanenten Wettbewerb unter den Gemeinden. Die Alpen selbst – so sein Fazit – lerne man da überhaupt nicht kennen. Die würden im Gegenteil durch diese Art von Tourismus zerstört.
Er empfiehlt für einen naturnahen Urlaub eine Reise nach Ramsau. Auch das ist eine Gemeinde, die vom Alpen-Tourismus lebt: Ramsau im Nationalpark Berchtesgaden, ein Dorf am Fuße des Watzmanns, durchflossen von der milchig weiß-bläulichen, brausenden Ramsauer Ache. Trotz der Abhängigkeit vom Tourismus, hat sich Ramsau entschieden, aus dem Affenrennen des „Immer mehr, immer schneller, immer weiter“ auszusteigen: Es wurde im September 2015 ein sogenanntes Bergsteigerdorf, das erste in Deutschland.
Bergsteigerdörfer wurden vom Österreichischen Alpenverein erfunden, und 2014 wurde das Konzept dann vom Deutschen Alpenverein übernommen. Der zeichnet Dörfer, bislang sind es drei, als solche aus, wenn diese verschiedene Kriterien wie ein traditionelles Ortsbild und mehr als ein Drittel Naturschutzfläche im Gemeindegebiet erfüllen und sich verpflichten, sich in Zukunft auch noch stärker mit den Fragen der Nachhaltigkeit zu beschäftigen. Und deshalb gibt es in Ramsau auch keine Sommerrodelbahn, keine großen Events, keinen Lift auf den Watzmann oder andere Gipfel, keine Ansiedlungsflächen für neue Hotels.
Dafür viele bietet Ramsau viele Kilometer einsamer Wanderwege und das Berg-Kultur-Büro im historischen Mesnerhaus direkt neben dem Kirchhof im Herzen des Ortes, das im April 2017 eröffnet wurde. Gegründet hat es Jens Badura, Philosoph, Hochschullehrer, Bergretter und -führer, Kulturmanager und Kunstvermittler, der sich mit alpiner Kultur und Lebensweise beschäftigt – und auch mit dem Tourismus. Er sagt über Ramsau: „Es gibt so eine Gunst des Verschlafens.“ Man habe einfach bis 1990er Jahre nicht mitgemacht: Bei der Modernisierung, beim Ausbau oder Neubau. Und das sei heute ein großes Plus. Denn hier geben es: Ruhe, Platz und gute Luft. Und was, so fragt er, braucht man eigentlich noch, um im Urlaub runter zu kommen?
Geht es nach dem Ramsauer Bürgermeister Herbert Gschoßmann dann wird es in Ramsau auch so bleiben. Er will zwar nicht sagen, dass der Weg, den andere Gemeinden im Tourismusausbau gehen, falsch sei. „Aber“, sagt er, „wenn man so einen Weg einmal einschlägt, dann glaube ich, gibt es irgendwann kein Zurück mehr, man ist auf diesem Weg gefangen, und da gibt es dann nur eines: Weiter, weiter! Denn wenn man da den Anschluss verliert, dann ist man wirklich im Niemandsland.“ Man sei somit Gefangener der eigenen Strategie. Und die Natur, wegen der Leute eigentlich kommen, die bleibt dabei irgendwann auf der Strecke.
Wir werden in diesem Jahr in den Sommerferien nicht in die Alpen fahren, sondern mit dem Rad aus Berlin irgendwo hin. Aber irgendwann, da bin ich mir sicher, geht es nach Ramsau. Wandern. Und die Anreise, die machen wir dann per Zug.
Günther Wessel
Petra Pinzler und Günther Wessel sind Journalisten und leben in Berlin. Petra arbeitet in der Hauptstadtredaktion der ZEIT, Günther freiberuflich überwiegend für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zusammen haben sie über ihre familiären Erfahrungen als CO2-Sparer das Buch „Vier fürs Klima“ veröffentlicht.
Sie werden in den nächsten Monaten hier immer wieder über ihre Erfahrungen berichten und freuen sich über Kritik, Anregungen und Ideen.
Vier fürs Klima. Wie unsere Familie versucht, CO2-neutral zu leben.
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