„Kostenloser Nahverkehr im ganzen Land“ – Lernen von Estland?
Mit einer Bevölkerung von 1,3 Mio. ist Estland relativ klein. Die Schlagzeilen, die Estland immer wieder in den internationalen Medien macht, sind dafür umso größer. Typische Themen sind die hohe Innovationsfreundlichkeit und Digitalisierung des Landes oder die geringe Bürokratie. Gegenwärtig werden 100 Jahre Unabhängigkeit gefeiert und die Medien berichten auch über klimapolitisch Interessantes: „Kostenloser ÖPNV in ganz Estland“ liest man gegenwärtig in den News.
Kostenloser öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) ist klimapolitisch sicherlich interessant, wenn dadurch mehr Leute ihr Auto stehen lassen oder es ganz abschaffen. In Berlin werden immerhin noch rund 30% der Mobilität mit dem Auto zurückgelegt, rund 70% erfolgen bereits auf klimafreundliche Weise (ÖPNV, Fuß- und Radverkehr) – Tendenz steigend! Das ist bereits besser als in vielen anderen Großstädten, aber um das Ziel eines klimaneutralen Berlins bis 2050 zu erreichen, muss sich dieses Verhältnis noch deutlich verbessern. Eine ältere Studie des Hamburg-Instituts prognostizierte tatsächlich ein Viertel weniger Autofahrten, wenn es auch in Berlin keine Tickets für den ÖPNV mehr gäbe. Gegenwärtig wird das Thema in ganz Deutschland diskutiert und nach der EU-Kritik zum Thema „Luftreinhaltung in den Städten“ an die deutsche Adresse hat es an Brisanz noch gewonnen.
Aber zurück nach Estland: Tatsächlich ist hauptsächlich in der Hauptstadt Tallin sowie in vielen anderen Gemeinden der öffentliche Nahverkehr kostenlos. Und dies schon seit etwa fünf Jahren. Damals – in Zeiten der Finanzkrise – war der kostenlose ÖPNV nach einer Volksabstimmung insbesondere aus sozialen Gründen eingeführt worden. Neu ist, dass seit Mitte 2018 auch Überlandbusse kostenlos genutzt werden können. Fazit: Aus klimapolitischer Sicht bewegt sich der Modal Split in Estland sicher in die richtige Richtung! Und, wenn auch noch nicht alle Verkehrsmittel (z.B. die Bahn) einbezogen sind und das System auch noch nicht ganz flächendeckend ist, so gilt doch: Estland ist weltweit Vorreiter in Sachen kostenloses öffentliches Verkehrsnetz.
Der ÖPNV ist nicht zu teuer, sondern zu schlecht – und das Auto zu billig. Busse und Bahnen müssen schneller und bequemer werden, die Haltestellen komfortabler, das Umsteigen kürzer. Auch bei Nulltarif werden die meisten, die es sich leisten können, nicht von ihrem Auto in einen schmuddeligen Bus mit Stehplatz, kaputter/abgeschalteter Klimaanlage/Heizung usw. wechseln. Das zu beheben kostet aber Geld. Jeder Euro ist hier besser angelegt als für einen Nulltarif. Ist in Tallin etwa der Autoverkehr zurückgegangen? Es ist wie bei erneuerbarer Energie: Verbilligen führt zu viel Sonnen- und Windenergie, aber nicht zu weniger Braunkohlestrom. Hinzu kommt, daß ein Nulltarif den Radverkehr kannibalisieren würde.
Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim hat den Fehler Nulltarif in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur 2013 für Bologna so beschrieben: “…Wenn plötzlich zehnmal mehr Leute mit dem öffentlichen Verkehr fahren, dann brauchen Sie mehr Busse, Sie brauchen mehr Bahnen, sie müssen investieren, und irgendwo muss das Geld herkommen. … Schon in den späten 70er-Jahren hat die Stadt Bologna in Italien … einen echten Nulltarif eingeführt. Das führte auch zunächst zu massiven Umsteigebewegungen, dann fehlte aber das Geld, die nötigen Busse zu kaufen, und dann fuhren da nur noch Rostlauben rum. Und dann haben die Leute natürlich sehr schnell gesagt, nein, mit Rostlauben wollen wir nicht mehr fahren.”
Der erste Schritt müßte sein, das Tempo für Pkw und Lkw schrittweise und wirksam herunterzubekommen – Ziel für 2025: innerstädtisch 20 km/h. Parallel ein Netzausbau mit Stadtbahn und Hochbahn (ähnlich U2 Eberswalder Straße – Schönhauser Allee , aber mit Umverglasung für den Schallschutz; ausschreiben, nicht vergeben). Das würde allein innerhalb des S-Bahn-Rings 250 Millionen Euro plus X kosten – da bleibt kein Geld für einen Nulltarif.